Der Liebe Gott


Noch drei Seiten, noch zwei, noch eine - endlich!

Ich klappte dieses Buch zu, ein ungewöhnlich dickes Taschenbuch mit vielen hundert Seiten. Es hatte einige Geduld gekostet, sich durch dieses Monumentalwerk hindurchzulesen, aber nun war es geschafft. Sein Titel lautete „Die Grönland-Saga" und handelte vom Aufstieg und Untergang der Grönländer, die dieses „Grüne Land", das diesen Namen damals noch verdiente, als Nachfahren Erichs des Roten im 14. Jahrhundert bewohnten. Die Beschreibung der Lebensweise dieser Leute aber, ihrer Nöte und Entbehrungen, ihres Glaubens, aber auch ihrer Freuden; nicht zuletzt die Schilderung zwar erfundener, aber auf sehr fundierten historischen Kenntnissen basierender Einzel- und Familienschicksale hatte mir sehr gefallen. Besonders angetan war ich von allem, was ich über die Frauen der Grönländer las, sie mussten, wenigstens zum Großteil, sehr hübsch und auch sehr weiblich gewesen sein und im Gegensatz zu den heutigen Produkten der Emanzipation von angenehmem Wesen. Nicht etwa unterwürfig, doch dem Manne treu und ergeben, was sich nicht zuletzt dadurch äußerte, dass sie die Augen niederschlugen, wenn dieser mit ihnen sprach.

Ich legte das Buch beiseite und dachte darüber nach. Auch bei einem Mann meines Alters -  nämlich mit dreiundsechzig Jahren - können sich in Ausnahmefällen noch Wunschträume einstellen, insbesondere, wenn man mit angenehmen Schilderungen des anderen Geschlechts konfrontiert wird. Aber, so dachte ich, Wunschträume sind und bleiben solche, sie werden nie in Erfüllung gehen, es sei denn, es geschähe ein Wunder.

Ich stand noch unter dem Eindruck des zuletzt gelesenen Buches über die Grönländer, ihrer Frauen und nicht zuletzt meines Wunschtraumes, als ich mich entschloss, noch meine übliche Runde den nahen Hügel hinauf zu gehen, denn das Wetter war warm und frühlingshaft. Ich erreichte nach einiger Zeit die Bank, auf der ich mich bei dieser Gelegenheit stets niederließ und die mir einen Blick über die Landschaft, den großen See in der Ferne und in die Berge gewährte. Dabei dachte ich wie immer an die Zeit vor vielen tausend Jahren, als aus diesen Bergen die Gletscher herauswuchsen, die sich bis weit ins Vorland erstreckten und ich stellte mir dies wieder einmal bildlich vor. Später erwärmte sich im Verlaufe vieler Jahrhunderte allmählich das Klima und vor 12 000 Jahren begannen die Gletscher, sich zurückzuziehen und riesige Haufen von Schutt zu hinterlassen, die sich mir heute als sanfte, bewaldete Hügel zeigten und eine tiefe Mulde, die den in der Ferne liegenden See entstehen ließ.

Erst aber war nichts als Schutt und Steine, kein Leben gedieh hier, viele Jahrhunderte lang. Bäche und Flüsse strömten aus den Bergen ins Land, führten das Wasser der schmelzenden Gletscher der Ebene zu und führten Geröll mit sich, das sie zu großen Deltas aufschütteten, wo sie in entstandene Seen mündeten. Doch wo Wasser ist, ist auch Leben. Irgendwann hatte der Wind ein Samenkorn angeweht, das sich im Geröll entfaltete, das Wasser spürend, und es wurde ein Pflänzchen daraus. Viele solcher kleinen Pioniere kamen im Laufe der Jahrhunderte hinzu, hinterließen winzige Spuren von Humus, und erst mit dem Vergehen der Jahrtausende waren es erst Sträucher und schließlich Bäume, die den Schutt mit ihrem Humus begruben und ausgedehnte Wälder entehen ließen.

Noch viel später tauchten dann die ersten Menschen auf, rodeten Wälder und schufen Äcker und Felder, noch später kamen dann die Römer über die Berge und bauten hier ihre Siedlungen. Auch sie verschwanden wieder, strebten ihrer ursprünglichen Heimat zu und hinterließen die fruchtbaren Hügel und Täler unseren Vorfahren, den Bajuwaren, die auf Pferden und Ochsenkarren durch das Land zogen, eine neue Heimat suchten und sie hier fanden.

Solche Betrachtungen ließen mich immer daran denken, wie kurz doch das Leben eines Menschen ist, viel zu kurz, ein Augenzwinkern im Lauf der Geschichte. Da kam mir das Buch über die Grönländer wieder in den Sinn und ich versuchte mich zu erinnern, was sich im 14. Jahrhundert hier abgespielt haben mochte. Ein vertrautes Geräusch aber unterbrach diesen Gedankengang, lenkte meinen Blick nach rechts auf das Feld und ich stellte fest, dass die ersten Kiebitze eingetroffen waren. Ich beobachtete sie eine Weile bei ihren verwegenen Balzflügen und dachte daran, dass auch ich den Gedanken an ein gewisses diesbezügliches Verhalten noch nicht ganz aufgegeben hatte und dass es da noch immer so etwas gab, was man gemeinhin Frühlingsgefühle nennt.

Meine Gedanken schweiften wieder zurück zu den schönen Grönländerinnen. Ich

       Interessant, weiter!